Im Garten war alles erlaubt. Mit dem Gartenschlauch die Sandkiste fluten, aus den Sonnenliegen ein Häuschen bauen und es sich dort mit dem Polster aus dem richtigen Bett gemütlich machen, Erdbeeren vom Strauch naschen, Marillenkerne in die Wiese spucken und durch den Zaun zum Nachbarskind schlüpfen. Im Garten war auch erlaubt, ohne sich groß zu waschen ins Bett zu gehen und nach dem Zähneputzen beim Fernsehen dick-schokoladige Mignonschnitten vom Meinl zu schmausen. „Im Garten“ war der Herrschaftsbereich der Omi und es war wunderbar dort. Außer in der Mittagspause, denn da mussten wir leise sein. Ganz leise. Kein lautes Lachen, kein Streiten, wer als nächste zum Schaukeln dran ist, kein gemeinsames Planschen im Aufblasschwimmbad. Nur leise sein. Ruhen, lesen, in die Luft schauen. Die streng gehütete Kleingartenmittagsruhe traf sich blendend mit dem Mittagsschlafbedürfnis der Erwachsenen. Wir, Bruder, Cousine und ich, waren zum einsamen Stillsein verdammt und haben es gehasst.

Erlösung war etwa um halb drei zu erwarten, wenn einer von den Mittagsschläfern uns kaum noch ruhig zu haltende Kinder zu sich winkte und Bargeld für ein Eis in Aussicht stellte, das „beim Wirten“ zu holen war, also im sogenannten Schutzhaus. Nicht nur das Eis an sich war köstlich, auch der Weg zum und vom Eiskauf ein Segen, der die Mittagspause erträglicher machte. Sie würde sonst unbarmherzig noch bis drei gedauert haben, um dann endlich vom Klingeln des großväterlichen Kaffeelöffels gegen ein Häferl beendet zu werden. Damit kam schlagartig wieder Leben in die ganze Familie. Mit der Jause wurde der Garten wieder zu einem Ort der Freude auch für uns Kinder.

Der besagte Garten ist ein Kleingarten in Leopoldau, im 21. Bezirk. Er gehört zum „Frohen Schaffen“, der ersten Kleingartenanlage, die nach 1945 angelegt wurde. Anders als die Kleingärten aus den 30-er Jahren, die die Hungersnot in der Bevölkerung lindern sollten, wurde das Frohe Schaffen ausdrücklich mit dem Ziel gegründet, „eine Mustersiedlung [zu werden], die der Gesundheit, Entspannung, Erholung und zur Freude dienen soll.“ 1961, als die ersten Parzellen verlost wurden, war keine Rede mehr von Selbstversorgung. Das „Frohe Schaffen“ war von Anfang an der Erholung gewidmet, sollte „Gesundheit ebenso fördern wie Freundschaftlichkeit und Hilfsbereitschaft“. So formulierten es die Gründungsmitglieder des Vereins im Jahr 1962.

Meine Großeltern gehörten zu den ersten „Siedlern“ im „Frohen Schaffen“. Damals waren sie selbst in ihren frühen 50-ern mit drei gerade knapp erwachsenen Töchtern und dem ersten Enkelkind. Der Garten war ihnen Freizeitbeschäftigung und Familienprogramm zugleich. Ihre Kinder, Schwiegerkinder und bald drei Enkelkinder waren ebenso Gartenbenützerinnen und –benützer. Ihrer aller Wochenenden spielten sich hier ab, es wurde gemeinsam gekocht, gegessen und Karten gespielt. Die Gartenarbeit oblag größtenteils den Großeltern, das Vergnügen den jüngeren Generationen. Die Regeln galt es von allen zu beachten: Einhaltung der Mittagspause, kein Rasenmähen oder sonstiges lautes Arbeiten ab Samstag Mittag und unnachgiebiges Jagen und Ausstechen aller stark samenden Unkräuter, allen voran des Löwenzahns. Die Gärten waren zum überwiegenden Teil äußerst gepflegt, die Obstbäume ordentlich gespritzt und allzu große Naturnähe – es waren die 60-er Jahre und Bio noch nicht einmal ein ferner Gedanke – verpönt. Dem kriegsversehrt-einarmigen Nachbarn wurde dennoch nachgesehen, dass der Löwenzahn auf seiner Wiese überhandnahm. „Er kann sich ja nicht helfen“, war der Steh-Seufzer der Omi angesichts der auf ihre gepflegte Wiese herüberwehenden Samen.

Als Kleingartenanlage der Stadt Wien gehören das „Frohe Schaffen“ und seine Mitglieder bis heute zum Zentralverband der Wiener Kleingärtner und unterliegen dessen Regeln. Im alltäglichen Gartengeschehen ist allerdings seit den 60-er Jahren vieles lockerer geworden. Die alljährliche „Begehung“ der Gärten durch die Vereinsleitung, für die seinerzeit jeder Halm geradegerichtet und die Kinder in den Sonntagsstaat gesteckt wurden, ist zu einem unauffälligen Verwaltungsakt verkommen. Die gehasste Mittagspause dauert nur mehr zwei Stunden statt drei und wenn doch einmal ein Kind lacht und ein Hund bellt wird anders als früher kaum noch geschimpft. Rasenmähen am Samstagnachmittag oder gar am Sonntag ist weiterhin streng verboten und verpönt, Löwenzahn und andere Spontanvegetation haben hingegen ihren Platz in den Gärten erobert. In manchen mehr, in anderen weniger, aber da der Wind keine Zäune kennt, bleiben auch diejenigen Gärtnerinnen und Gärtner nicht verschont, die auf ihren 350 Quadratmetern geordnetere Pläne verfolgen.

Anfang der 90-er Jahre wurde das „Frohe Schaffen“ als „Erholungsgebiet Kleingarten mit ständigem Wohnen“ gewidmet. Nun war es möglich, auch die Wintermonate über im Garten zu leben. Nachdem es mittlerweile auch Wasserleitung, Kanal, Gas und elektrische Wegbeleuchtung gab, entstand bei vielen Kleingärtnern die Idee vom „richtigen“ Wohnen im Garten. Seit 1999 bietet die Magistratsabteilung 69 (Immobilienmanagement der Stadt Wien) die Pachtgärten im „Frohen Schaffen“ und anderen Kleingartenanlagen zum Kauf an. Viele Mitglieder haben sich seither zum Kauf entschlossen. Nachdem die nach dem Kleingartengesetz erlaubte verbaubare Fläche mittlerweile komfortable Hausgrößen erlaubt, sind die Kleingartenanlagen der Stadt Wien zu beliebten Wohngebieten geworden.

„Im Garten“ verbringe mittlerweile ich meine Sommer. Der Garten ist von der Omi auf mich übergegangen und hat nichts von seinem Wunderort-Flair verloren. Es gibt noch den Marillen- und den Weichselbaum von früher, ein paar der alten Rosenstöcke und die Ligusterhecke. Das Haus ist neu, der Keller und die Gerätehütte sind noch die alten. Neben der Terrasse blüht jeden Frühling die Tamariske, ein wunderbar altmodisches Gewächs, das mich an Italien denken lässt und an die Omi.

Ich bin ein Kind des Schrebergartens und anders als meine Besucherinnen und Besucher befremdet mich hier einfach gar nichts. Das Grüßen über die Hecke, das Tratschen über den Zaun, dass ich die Gespräche der Nachbarn höre und sie meine, der Geruch der Würstel, sobald die ersten warmen Nachmittage Lust aufs Grillen machen und der Schnitzelduft aus dem Schutzhaus. Das gehört alles unhinterfragt zum Garten. Ich liebe es, wenn am Samstag Früh in der Nachbarschaft gemäht wird und ich das frisch geschnittene Gras riechen kann, und ich freue mich jeden Sommer an der Schlagerkombo, die beim Sommerfest aufspielt, sodass ich „Für Gabi tu ich alles“ bis zu mir höre. An ganz heißen Sommertagen lege ich mich ins Aufblasplanschbecken und trinke dort meinen Campari-Soda. Dass das höchstwahrscheinlich gar nicht im Sinne des gestrengen, um aufrechte Haltung und der Gesundheit angeblich zuträgliche Triebabfuhr bemühten Dr. Daniel Gottlieb Schreber (mehr dazu unten in der Infobox), der auch meinem Idyll den Namen geliehen hat, wäre, ist mir dabei ganz egal.

Im Garten ist nämlich alles erlaubt. Danke, Omi!

INFO: Die Wiener Kleingärten
Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der Industrialisierung, waren deutsche Städte wie Berlin, Leipzig oder Dresden für Arbeiter und ihre Familien keine Orte des gesunden Lebens. Die Arbeitsbedingungen waren hart und die Wohnverhältnisse schlecht. Viele Menschen teilten sich wenig unzureichend ausgestatteten Wohnraum, die hygienischen Bedingungen waren denkbar schlecht. Mangelerkrankungen schwächten die Menschen ebenso wie Ungeziefer und Infektionen.

Sozial engagierte Mediziner empfahlen gegen die gesundheitliche und aus ihrer Sicht auch moralische Verelendung der Arbeiterschaft frische Luft und körperliche Ertüchtigung, gesunde Ernährung und der Verzicht auf Alkohol. Die Entstehung der ersten deutschen Turnvereine beruht auf diesen Gedanken.

Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808 bis 1861) war ein Leipziger Orthopäde. Er beschäftigte sich vor allem mit der Gesundheit von Kindern und den sozialen Folgen des Stadtlebens am Beginn der Industrialisierung. Als förderlich erachtete er Heilgymnastik und die Ertüchtigung der Stadtjugend im Grünen. Dazu setzte er sich für die Errichtung von „Armen- und Specialgärten“ ein, da die Mietskasernen der Großstadt keine Grünflächen aufwiesen.

Schreber, der außerdem allerlei Apparaturen zur geraden Ausrichtung des Körpers und Therapien zur Triebabfuhr (also gegen Masturbation) entwickelte, wurde zum Namensgeber der „Schrebergärten“. Diese gehen auf ein mit dem Anatomen Carl Ernst Bock entwickeltes Konzept zurück. Der erste „Schreberverein“ wurde als eine Art Tummelplatz für Kinder erst drei Jahre nach dem Tod Schrebers 1864 gegründet.

Unter einem Schrebergarten verstand man bald auch in Wien einen Kleingarten, der von Vereinen, Siedlungsgemeinschaften oder der Stadt zur Bewirtschaftung an Privatpersonen verpachtet wird. In Friedenszeiten bieten die Schrebergärten Raum für Erholung, Bewegung und Hobby. Während der beiden Weltkriege und in der großen Arbeitslosigkeit der 30-er Jahre waren die Gärten mit ihrer Möglichkeit zur Selbstversorgung echte Überlebenshilfen. („Hätt‘ ich nicht geschrebert, wer weiß, ob ich noch lebert.“ war ein beliebter Spruch über die Bedeutung der Klein- oder „Schrebergärten“)

Die ersten Schrebergärten in Wien entstanden am Ameisbach im 14. Bezirk. Heute gibt es in Wien ca. 39.000 Kleingärten, die meisten davon im 22., 21., 14 und 10. Bezirk.

Für die Kleingärten der Stadt Wien gelten die genau definierten Benützungs- und Bebauungsbestimmungen des Kleingartengesetztes. Lange Zeit durften nur kleine Hütten errichtet und konnten die Gärten nur gepachtet werden. Die Gärten durften ursprünglich auch während des Winters nicht benützt werden. Mittlerweile ist sowohl die ganzjährige Nutzung erlaubt wie auch das Errichten von Wohnhäusern. Seit den 1990-er Jahren ermöglicht die Stadt Wien auch den Grunderwerb im Kleingarten. Neben Gärten auf Grund und Boden der Gemeinde Wien gibt es u.a. Schrebergärten auf Gründen der Republik Österreich, der Österreichischen Bundesbahnen und des Stifts Klosterneuburg.

Etwa 3,7% der Wiener Gesamtfläche wird von Kleingärten eingenommen. Sie tragen damit als wichtige Grünflächen zum Stadtklima bei. Die Beliebtheit der Gartenparzellen ist ungebrochen und die Nachfrage nach Kleingärten übersteigt das Angebot bei weitem.