Im Jahr 1919 begann die Gemeinde Wien ihren Wohnhausanlagen Namen zu geben. Damit sollte vor allem sozialdemokratischen Persönlichkeiten und wichtigen Denkern der sozialen Bewegung ein Denkmal gesetzt werden. 347 der Wiener Gemeindebauten tragen Namen. Manche von ihnen wurden im Lauf der Geschichte umbenannt. So wurde der berühmte Karl-Marx-Hof in der Errichtungsphase und während des Austrofaschismus und Nationalsozialismus als Heiligenstädter-Hof bezeichnet. Im Austrofaschismus wurden auch andere Namen von Gemeindebauten der herrschenden Ideologie gleichgeschaltet und diese Namensänderungen nach 1945 wieder rückgängig gemacht; zum Beispiel Friedrich-Engels-Hof in Engelhof und wieder retour. Eine Ausnahme bildet der Rabenhof (ursprünglich Austerlitzhof), der in der Zweiten Republik seinen Namen behalten hat.

Manche Gemeindebauten tragen Flurnamen, das heißt sind nach der Gegend benannt, in der sie errichtet wurden. Dazu gehören unter anderen die große Wohnhausanlage Sandleiten, der Metzleinstaler und der Erdberger Hof. Andere tragen ihre Namen zum Dank für Hilfe für die Wiener Bevölkerung nach dem 2. Weltkrieg: Bieler Hof, Zürcher Hof.

 

Who is who?

Frauennamen im Wiener Gemeindebau

So sehr die Wiener Sozialdemokratie die Sache der Frau in ihren ideologischen Positionen vertreten hat, so wenig schlug sich das in der Benennung der Gemeindebauten nieder. Das mag daran gelegen sein, dass die Zahl der weiblichen Politikerinnen und Vordenkerinnen weitaus geringer war als die der männlichen. Dennoch dürfen wir davon ausgehen, dass Frauen auch in den fortschrittlichen Kreisen einfach „übersehen“ wurden. Ausnahmslos wurden alle Benennungen nach Frauen auch für Gemeindebauten, die in der Ersten Republik errichtet wurden, erst nach dem 2. Weltkrieg unternommen. In der neueren Zeit lässt sich ein leichter Trend zu mehr Frauennamen im sozialen Wohnbau feststellen. Es bleibt eine Spurensuche nach den Namensgeberinnen Ausschau zu halten. Hier ein paar Beispiele:

Adelheid-Popp-Hof
16., Possingergasse 39-51 (errichtet 1932/33, benannt 1949)
Adelheid Popp (1869 – 1939) war eine engagierte Sozialdemokratin. Die Arbeiterin und Schriftstellerin war Redakteurin der „Arbeiterinnen-Zeitung“, Organisatorin der ersten Frauenstreiks (1893) für bessere Arbeitsbedingungen, Vorsitzende des sozialistischen Frauenkomitees, Gemeinderätin und Landtags- und Nationalratsabgeordnete. Sie gilt als die erste Berufspolitikerin Österreichs. Während der Februarkämpfe 1934 entging sie wegen eines Spitalsaufenthalts der Verhaftung durch das austrofaschistische Regime. Danach lebte sie bis zu ihrem Tod zurückgezogen.

Therese-Schlesinger-Hof
8., Schlösselgasse 18 (errichtet 1929-1939, benannt 1949)
Therese Schlesinger (1963 – 1940) stammte aus einer jüdischen Fabrikantenfamilie und lernte von Kindheit an die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen kennen. Sie trat in die Sozialdemokratische Partei ein und kämpfte für das Frauenwahlrecht, Gleichberechtigung und die Zulassung von Frauen zum Studium. Sie war Abgeordnete zum Nationalrat und zum Bundesrat und flüchtete vor der Verfolgung durch die Gestapo ins Exil nach Frankreich.

Anna-Boschek-Hof
10., Davidgasse 76-80 (errichtet 1953-1956, benannt 2009)
Anna Boschek (1874-1957) stammte aus ärmsten Verhältnissen und bestritt ihren Lebensunterhalt ab ihrem 12. Lebensjahr als Heim- und Fabriksarbeiterin. 1893 trat sie in den Arbeiterbildungsverein ein, 1893 war sie Delegierte bei der Gründung der Reichsgewerkschaftskommission und 1894 Angestellte der Gewerkschaft. Anna Boschek war Gewerkschaftsfunktionärin, Mitglied des Wiener Gemeinderats und Nationalratsabgeordnete. 1934 wurde sie verhaftet und musste mehrere Wochen im Polizeigefangenenhaus verbringen. Anschließend stand sie unter politischer Beobachtung. Nach 1945 hat sie keine politischen Ämter mehr bekleidet.

Magarete-Schütte-Lihotzky-Hof
21., Donaufelder Straße 99 (erbaut 1995 – 1997, benannt 1997)
Margarete Schütte-Lihotzky (1897 – 2000) war die erste Architektin in Österreich. Sie interessierte sich besonders für den sozialen Aspekt von Architektur und arbeitet u.a. an der Planung des Winarkskihofs im 20. Bezirk und an der Werkbundsiedlung im 13.  Bezirk mit. Die von ihr entworfene Frankfurter Küche (1926) entsprang dem Gedanken der Arbeitserleichterung für die berufstätige Frau und gilt als Vorbild der industriell gefertigten modernen Einbauküche. 1930 ging sie mit einer Gruppe sozialreformerischer Architekten nach Moskau, später lehrten sie und ihr Mann in der Türkei, wo sie sich der Auslandsgruppe der Kommunistischen Partei Österreichs und dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus anschlossen. 1940 kehrte Margarete Schütte-Lihotzky nach Wien zurück, um Kontakte zu Widerstandsgruppen zu organisieren. Sie wurde verhaftet und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Durch das Kriegsende wurde sie aus der Haft befreit. In der Nachkriegszeit erhielt sie nur wenige öffentliche Aufträge, was sie auf ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei zurückführte. Bis zu ihrem Tod im Alter von 103 Jahren blieb sie politisch und publizistisch aktiv.

Bertha-von-Suttner-Hof
4., Waltergasse 5 (errichtet 1956/57, benannt 1957)
Bertha von Suttner (1834 – 1914) war Schriftstellerin und Friedensaktivistin. Ihr Buch „Die Waffen nieder“ erschien 1889, verbreitete sich sehr rasch in ganz Europa und machte Bertha von Suttner zu einer zentralen Figur der aufkommenden Friedensbewegung. Im Jahr 1905 erhielt sie den Friedensnobelpreis. Bertha von Suttner starb im Jahr 1914 eine Woche vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs. Ihr Porträt war auf dem 1000-Schilling-Schein und ist auf der österreichischen 2-Euro-Münze abgebildet.

Johanna-Dohnal-Hof
14., Jenullgasse 18-26 (errichtet 1931/32, benannt 2011)
Johanna Dohnal (1939 – 2010) war sozialdemokratische Politikerin, Bezirksrätin, Frauensekretärin, Bundesfrauenvorsitzende der SPÖ, Gemeinderätin und Landtagsabgeordnete, Staatssekretärin für allgemeine Frauenfragen im Bundeskanzleramt und Bundesministern für Frauenangelegenheiten (1991 – 1995). Ihr politisches Programm förderte Sexualaufklärung, die Fristenlösung, die Errichtung von Frauenhäusern und Familienrechtsreformen zugunsten der Frauen.

Ella-Lingens-Hof
23., Steinergasse 36 (errichtet 1997-199, benannt 2003)
Ella Lingens (1909 – 2002) war Juristin, Ärztin und Widerstandskämpferin. Sie unterstützte die Flucht vom Nationalsozialismus verfolgter Jüdinnen und Juden in die Schweiz. Nach einem Verrat wurde sie verhaftet und ins Konzentrationslager Auschwitz und später nach Dachau deportiert. Sie überlebte die Konzentrationslager und arbeitete nach 1945 wieder als Ärztin und im öffentlichen Gesundheitsdienst. Sie publizierte ihre Erinnerungen aus der Gefangenschaft und trat als Zeitzeugin in Schulen auf.

Christine-Busta-Hof
16., Wichtelgasse 3-5 (errichtet 1984/85, benannt 1990)
Christine Busta (1915 – 1987) war Lyrikerin, Lehrerin und Bibliothekarin der städtischen Büchereien. Neben Gedichtbänden veröffentlichte sie auch Kinderbücher („Die Sternenmühle“, „Die Zauberin Frau Zappelzeh“). Als 1970 die erste Hauptbücherei der städtischen Büchereien im Haus des Buches in der Skodagasse im 8. Bezirk eröffnet wurde, wurde sie die erste Direktorin dieser Einrichtung.

Rosa-Jochmann-Hof
11., Simmeringer Hauptstraße 142-150 (errichtet 1931/32, benannt 2013)
Rosa Jochmann (1901 – 2013) war Arbeiterin, Betriebsrätin, Gewerkschafterin und Mitglied des Parteivorstands der Sozialdemokratischen Partei im Jahr 1933 sowie erneut 1945 – 1967. Während dieser Jahre war sie auch Abgeordnete zum Nationalrat. Als Widerstandskämpferin gegen Austrofaschismus und Nationalsozialismus wurde sie bereits 1934 für mehrere Monate verhaftet, danach erneut im Jahr 1939 und 1940 ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, wo sie bis zur Befreiung des KZs 1945 befreit wurde. Rosa Jochmann von 1963 bis 1994 Vizepräsidentin des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands und trat bis zu ihrem Tod als Zeitzeugin auf. An der Gemeindebauanlage in der Braunhubergasse 25 in Simmering erinnert eine Gedenktafel an die ehemalige Bewohnerin Rosa Jochmann.

Haben Sie jetzt Lust auf eine Führung durch ein paar Wiener Gemeindebauten bekommen? 
Hier gehts zur Tour Ringstraße des Proletariats.

Quellen u.a.:
https://www.geschichtewiki.wien.gv.at
Peter Autengruber, Ursula Schwarz Lexikon der Wiener Gemeindebauten. 2013.